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Grundgedanken

Grundgedanken des Rahmenplans

März 2016

 

Wie alles anfing

 

Die Geburtsstunde des Rahmenplans für die Aus- und Weiterbildung von Literatur­übersetzern fällt ins Jahr 2008, als eine gemeinsame Initiative aus Niederländischem Literaturfonds (NLF), Flämischem Literaturfonds (VFL), Expertisecentrum Literair Vertalen (ELV, Utrecht-Louvain) und Nederlandse Taalunie (Niederländische Sprachunion; NTU) eine Broschüre „zur Erhaltung einer blühenden Übersetzungskultur“ im niederländischen Sprachraum veröffentlichte. Sie schilderte ausführlich die Lage des Literaturübersetzens im allgemeinen und die vergleichsweise schwierige Lage der Aus- und Weiterbildung für Literaturübersetzer in den Niederlanden und Flandern. Sie plädierte energisch dafür, Strukturen für lebenslanges Lernen einzurichten, in denen akademische Studiengänge und außeruniversitäre Initiativen gemeinsam und auf flexible Weise zusammen­arbeiten.

Die Ideen der Broschüre wurden im Dezember 2011 bei der PETRA-Konferenz in Brüssel vorgestellt und diskutiert. Wie sich zeigte, ließ sich die niederländisch-flämische Lage­beschreibung grosso modo auf viele andere europäische Länder übertragen. Der Abschnitt über „Aus- und Weiterbildung“ enthielt einige Empfehlungen, und die zweite lautete:

Empfohlen wird eine Diskussion über zukunftsträchtige langfristige Strukturen für die europaweite Aus- und Weiterbildung von Literaturübersetzern. Das bedingt den Austausch zwischen und die Zusammenarbeit von akademischen und nichtakademischen Institutionen in Bezug auf Ausbildungsinhalte, praktische Fragen und Lehrmethoden. Eine repräsentative Arbeitsgruppe sollte auf der Grundlage bestehender Initiativen ein Konzept ausarbeiten. Ein Programmpunkt könnte die Entwicklung eines Lernaufbaus für Literaturübersetzer mit einer klar gegliederten Stufenabfolge vom Berufsanfänger bis zum professionellen Übersetzer sein, wobei praktizierende Übersetzer, die bereit sind, ihre Kenntnisse und Fertigkeiten weiterzugeben, in die Aus- und Weiterbildung einbezogen werden.

Die Organisatoren der PETRA-Konferenz beauftragten das Expertisecentrum Literair Vertalen, ihre Empfehlungen zur Aus- und Weiterbildung auszuarbeiten. Schlussendlich war es die Nederlandse Taalunie, die sich zusammen mit den Universitäten Utrecht und Leuven sowie fünf weiteren europäischen Partnern (CEATL, Deutscher Übersetzerfonds, ELTE Universität Budapest, BCLT / Universität von East Anglia und Fondazione Universitaria San Pellegrino) um eine Erasmus+-Förderung bewarb, die auch bewilligt wurde. Geplant war der Entwurf eines Rahmenplans, der einen systematischen Überblick über alle Fertigkeiten und Kenntnisse einer Literaturübersetzerin bieten sollte. Daneben sollte der Rahmenplan ein Instrument an die Hand geben, um bestehende Studiengänge, Kursangebote und Workshops zu benchmarken. Nicht zuletzt sollte er eine Orientierungshilfe für die berufliche Selbsteinschätzung von Literaturübersetzern sein, um ihr Kompetenzniveau beurteilen zu können. Und angesichts der Tatsache, dass in den letzten Jahren in ganz Europa Master-Studiengänge Literaturübersetzen aus dem Boden geschossen sind, sollte es schließlich ein Hauptziel des Rahmen­plans sein, die Kooperation zwischen den vielen nichtakademischen Weiter­bildungsangeboten und den universitären Studiengängen zu erleichtern.

 

 

Ein kompetenzorientiertes Modell

 

Um alte Grenzen (zwischen Theoretikern und Praktikern) und neue Spannungen (zwischen akademischen und nichtakademischen Ansätzen) zu überwinden, musste ein gemeinsames Grundkonzept gefunden werden. Als breiter Konsens darf wohl gelten, dass das Literatur­übersetzen sehr viel Spezialwissen erfordert (Sprachen, Literaturgeschichte, literarische Systeme, kulturelle Unterschiede usw.) und noch weit mehr spezifische Fertigkeiten (Textanalyse, Transfertechniken, Problemlösung, Recherchetechniken usw.). Eine Literatur­übersetzerin muss darüber hinaus imstande sein, sich sowohl auf dem literarischen Feld als auch auf dem professionellen Feld (Verlage, Förderfonds usw.) zu behaupten. Diese Kombination aus Kenntnissen, Fertigkeiten und persönlichen, sozialen sowie methodischen Fähigkeiten entspricht in geradezu idealer Weise der Definition dessen, was in didaktischen Kontexten „Kompetenz“ genannt wird. Eine Kompetenz ist eine Synthese aus nachweislichen Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten.

Das Kompetenzkonzept war ein idealer Einstiegspunkt, weil eine seiner Grundannahmen lautet, dass es keine Rolle spielt, wie oder wo man die jeweiligen Kompetenzen erwirbt. Es ist praktisch bedeutungslos, ob man sie durch das Nachahmen einer erfahrenen Übersetzerin erwirbt, durch das Absolvieren eines universitären Studiengangs oder durch den gelegentlichen Besuch von Workshops. Hauptsache, man kann am Ende beweisen, dass man über die erforderlichen Kompetenzen verfügt. So gesehen, provoziert das Kompetenz­modell jede Methode und Schule.

 

 

Ein analytisches Modell

 

Die Definition des Konzepts „Kompetenz“ beinhaltet die genannte Unterscheidung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Die Anschlussfrage lautet also: Wie genau analysiert man, über welche Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten eine kompetente Literaturübersetzerin verfügen sollte? Diese Angelegenheit muss natürlich einvernehmlich entschieden werden, und das ist bei mehreren Tagungen des PETRA-E-Projekts geschehen. Aus konzeptueller Perspektive wäre ein Lernaufbau, der einen umfassenden Überblick über alle Arten von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten einer Literatur­übersetzerin beinhaltet, die analytische Repräsentation des allzu synthetischen Konzepts „Literaturübersetzerin“. Statt von vorgefassten Vorstellungen „der Literatur­übersetzerin“ auszugehen, unterscheidet ein kompetenzorientiertes Modell die verschiedenen Teile, die in einem Prozess der Aus- und Weiterbildung zu einer kompetenten Literaturübersetzerin führen. Ein kompetenzorientiertes Modell steht Annahmen von Naturtalenten verständlicher­weise kritisch gegenüber. Auch ein Naturtalent muss irgendwann beweisen, dass diese Annahmen berechtigt waren.

 

 

Ein offenes Modell

 

Der analytische Charakter des Modell beschränkt sich nicht auf die Unterscheidung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Wie eben festgehalten, ist die synthetische „literarische Übersetzungskompetenz“ faktisch ein Zusammenspiel diverser Teil- oder Unterkompetenzen, deren Summe „die literarische Übersetzungskompetenz“ ergibt. Die Zahl der Unterkompetenzen ist dabei grundsätzlich offen; es ist jederzeit möglich, neue hinzuzufügen oder bestehende auszuscheiden, wenn dies sachdienlich scheint.

Jede Unterkompetenz muss von Deskriptoren definiert werden. Auch die Zahl der Deskriptoren ist offen, aber nicht unbegrenzt. Einerseits sollten die Deskriptoren abdecken, was realiter von der jeweiligen Unterkompetenz gemeint ist, d.h. sie sollten die Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten benennen, aus denen sie sich zusammensetzt. Andererseits sollten Zahl und Definition der Deskriptoren aus pragmatischen Gründen (besonders aus Evaluierungsgründen, siehe unten) sorgfältig und präzise geschehen. Im Dienst der Klarheit und Präzision werden Deskriptoren üblicherweise als sogenannte „Kann-Aussagen“ formuliert, beispielsweise „Kann ausgangssprachliche Texte analysieren“.

 

 

Analyse und Konstruktion der literarischen Übersetzungskompetenz

 

Die ersten beiden Schritte waren daher

 

–          Differenzierung, Benennung und Definition von Kompetenzen

–          Beschreibung der Kompetenzen durch so viele Deskriptoren wie nötig

 

Die Hauptquelle für die Festlegung der Kompetenzen eines Literaturübersetzers war natürlich die Realität des Literaturübersetzens. Die Analyse dessen, was ein „guter“ Literaturübersetzer weiß und tut und welche Fähigkeiten er dabei einsetzt, erlaubte die Differenzierung einer Reihe von Kompetenzen. Dieses Vorgehen lässt sich mit der Arbeit eines Systemanalytikers in der Informatik vergleichen. Auch bereits bestehende Kompetenz­modelle für das Übersetzen im allgemeinen (in den Bereichen Technik, Recht usw.) dienten jedoch als Inspirationsquelle und hier besonders das Kompetenzmodell des europäischen MA in Übersetzen sowie das Modell der PACTE-Gruppe an der Universität von Barcelona (UAB). Beide Modelle haben eine Kreisstruktur mit einer Zentral­kompetenz wie etwa die strategische Kompetenz im PACTE-Modell. Beim PETRA-E-Modell entschied man sich schon früh für eine lineare Struktur, um den Eindruck einer Hierarchisierung der Einzelkompetenzen zu vermeiden.

 

Am Ende wurden acht Kompetenzen benannt:

 

–          Transferkompetenz

–          Sprachkompetenz

–          Textkompetenz

–          heuristische Kompetenz

–          literarisch-kulturelle Kompetenz

–          Berufskompetenz

–          Evaluationskompetenz

–          Forschungskompetenz

 

Die Reihenfolge dieser Kompetenzen ist wohlgemerkt nicht hierarchisch.

Nach der Differenzierung dieser acht Kompetenzen musste jede einzelne mit Hilfe von Deskriptoren beschrieben werden. Die Zahl der Deskriptoren sollte, wie gesagt, möglichst gering gehalten werden. Zwei Kriterien kamen hier zum Tragen: 1. Die Deskriptoren sollten eine möglichst vollständige (keine ideale) Definition der ­Kompetenz liefern, und 2. Jeder Deskriptor sollte im weiteren Verlauf der Modell­erarbeitung mit „Verhaltens­indikatoren“ verknüpft werden, um das Niveau des Kompetenz­erwerbs evaluieren zu können. Zu viele allzu detaillierte Deskriptoren hätten eine Evaluierung nahezu unmöglich gemacht. Außerdem hätten sie die Freiheit der Nutzer des Rahmenplans massiv eingeschränkt. Deskriptoren sollten also so formuliert werden, dass sie Interpretations­spielraum ließen. Um bei der Anwendung des Rahmenplans größtmögliche Freiheit zu wahren, sollten Deskriptoren möglichst klar und allgemein definiert werden. Ein Deskriptor sollte nicht zu einer bestimmten Theorie oder Methode neigen. Der erste Deskriptor der Transferkompetenz lautet beispielsweise: „kann ausgangssprachliche Texte verstehen“. Er erwähnt keine Theorie oder Methode, nach deren Vorgaben dieses Verstehen vonstattengehen soll. Das liegt im Ermessen der Nutzer des Rahmenplans. Dasselbe gilt für alle Deskriptoren.

 

Der erste Entwurf des Rahmenplans differenzierte für die acht Kompetenzen nur 55 Deskriptoren. Im Lauf der Diskussionen bei Tagungen in Utrecht, Misano, Budapest und Antwerpen wurden daraus 127. Diese Zahl erlaubt Rückschlüsse auf die Komplexität des Berufs des Literaturübersetzers. Andererseits könnte sie die Anwendbarkeit des Rahmenplans als Ganzem verkomplizieren.

 

 

Von einem einlinigen Modell zu einem mehrdimensionalen Rahmenplan

 

Die Definition und Beschreibung der Kompetenzen einer Literaturübersetzerin resultierten in einer detaillierten Liste von Kompetenzen, vergleichbar dem EMT-Modell. Eine Liste ist aber noch kein Rahmenplan geschweige denn ein Referenzrahmen, der sich mit dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (CEFR) vergleichen ließe, auf den sich unser Rahmenplan in der Definition der Sprachkompetenz bezieht. Um ein Rahmenplan zu werden, musste die Kompetenzenliste zum Einen durch einen Lernaufbau ergänzt werden, der mehrere Ebenen des Kompetenzerwerbs differenziert, zum Anderen durch ein Bewertungs- und Beurteilungssystem, das fundierte und zuverlässige Tests erlaubt, deren Bestehen zum Wechsel auf das nächsthöhere Niveau führt. Von einer einlinigen (vertikalen) Kompetenzenliste musste das Modell zu einem dreidimensionalen Rahmen­plan mit folgenden Bestandteilen weiterentwickelt werden:

  1. a) einer Kompetenzenliste,
  2. b) einem Lernaufbau und
  3. c) einem Bewertungssystem.

Nur dann finden Studierende und Auszubildende in Literaturübersetzen in ganz Europa – unabhängig davon, ob sie ihr Handwerk in einer akademischen oder außerakademischen Institution erlernen, und unabhängig davon, ob sie es als Studierende, als Autodidakten oder unter der Hilfestellung erfahrener Mentoren und Mentorinnen erlernen – Anhaltspunkte für die eigene Orientierung: Wo stehe ich auf meinem Weg zu einem kompetenten Literaturübersetzer?

Die Kompetenzenliste wurde daher mit einem Lernaufbau kombiniert, der fünf Niveaus unterscheidet:

 

–          Anfänger

–          fortgeschrittener Anfänger

–          Profi am Anfang der Berufstätigkeit

–          fortgeschrittener Profi

–          Experte

 

Durch die Kombination von Kompetenzen mit einem Lernaufbau geht der PETRA-E-Rahmenplan über das EMT-Kompetenzenmodell hinaus. Indem er den Evaluationsaspekt berücksichtigt, folgt er dem PACTE-Beispiel (siehe unten). Er erzeugt allerdings auch mindestens eine doppelte Spannung: Erstens besteht eine gewisse Inkompatibilität zwischen dem Konzept eines Lernaufbaus mit mehreren Ebenen und der grundsätzlich dichotomischen Beschaffenheit einer Kompetenz: Entweder hat man eine Kompetenz oder man hat sie nicht, man ist entweder kompetent oder inkompetent. Es ist einigermaßen unsinnig, von „einem halbwegs kompetenten Menschen“ zu sprechen oder jemanden als „sehr kompetent“ zu bezeichnen. In didaktischen Zusammenhängen ist es aber sinnvoll, von einem Kontinuum des Kompetenzerwerbs auszugehen. Und zweitens kann die Verteilung der Deskriptoren auf die verschiedenen Kompetenzniveaus besonders bei den ersten beiden Niveaus im europäischen Kontext von Land zu Land stark variieren.

Die erste Spannung lässt sich mit dem Hinweis darauf auflösen, dass der Lernaufbau in didaktischen Kontexten operiert und dass die erforderlichen Niveauwechsel durch auf die jeweiligen Niveaus abgestimmte Zwischenprüfungen legitimiert werden, wie man sie aus BA- und MA-Studiengängen kennt. Wenn es allerdings um die Evaluation vom Kompetenzen geht, sollten diese als Endkompetenzen betrachtet werden. Die zweite Spannung lässt sich mit dem Verweis auf die Flexibilität und Offenheit des Rahmenplans auflösen; Deskriptoren lassen sich ohne weiteres in frühere oder spätere Phasen des Lernaufbaus verschieben.

 

 

Einige Bemerkungen zur Evaluation

 

Die Rede von Kompetenzen und Lernniveaus setzt ein fundiertes und zuverlässiges Bewertungs- und Beurteilungssystem voraus. Die offene und freie Beschaffenheit des Rahmenplans sollte mit einem Evaluationssystem gekoppelt werden, das Lernenden unabhängig von Ort und Form ihrer Ausbildung fundierte und zuverlässige Informationen über ihre Kompetenzen garantiert. Die Implementierung eines solchen Evaluationssystems kann innerhalb des aktuellen Projekts aber nicht verwirklicht werden und muss einem Anschlussprojekt vorbehalten bleiben. Heutzutage bemisst sich die Übersetzungs­kompetenz in aller Regel an der Qualität der Produkte, die Übersetzer und Übersetzerinnen abliefern. Damit steht man aber vor dem Problem, dass Kompetenzen Eigenschaften von Menschen sind, nicht von (Übersetzungs-)Produkten. Zwischen Kompetenzbeurteilung und Produktbeurteilung ist klar zu unterscheiden. Es mag paradox klingen, aber zwischen der Qualität einer Übersetzung und der Kompetenz eines Übersetzers besteht kein nach­gewie­sener Zusammenhang. Wobei auch das Gegenteil gilt: Es ist nicht sicher (wenn auch zu hoffen), dass eine kompetente Übersetzerin eine „gute“ Übersetzung abliefert.

In seiner gegenwärtigen Form unternimmt der Rahmenplan eine Art Evaluation auf Grundlage einer Reihe von Annahmen: Er nimmt beispielsweise an, dass jemand auf Niveau 3 wechseln kann, wenn er/sie einen MA in Literaturübersetzen hat. Er nimmt weiter an, dass jemand eine fortgeschrittene Übersetzerin ist, wenn sie zwei literarische Übersetzungen vorgelegt hat. Aufgrund dieser Annahmen können wir aber noch nicht sicher sein, dass diese Studentin oder Übersetzerin wirklich alle erforderlichen Kompetenzen erworben hat. Das liegt unter anderem daran, dass die Kompetenz eines Übersetzers in institutionellen Kontexten (Universitäten, Förderfonds, Verlagen) oft nach der Qualität des Übersetzungsprodukts beurteilt wird. Die Frage ist aber, wie gesagt, ob die Qualität einer Übersetzung in jedem Fall direkt auf die Kompetenz eines Übersetzers zurückgeführt werden kann.

Ein Kompetenzmodell muss sich auf fundierte und zuverlässige Tests stützen, um zu beweisen, dass eine Kompetenz wirklich erworben worden ist. Im Idealfall sollte jeder im Rahmenplan aufgeführte Deskriptor daher mit wahrnehmbaren „Verhaltensindikatoren“ kombiniert werden, die belegen, dass die erforderlichen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten wirklich vorhanden sind. Im Idealfall würde jeder Deskriptor durch fundierte und zuverlässige Tests geprüft, die belegen, dass die Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten eines jeden Lernenden in Korrelation zu den „Verhaltensindikatoren“ stehen. Auf europäischer Ebene kann die Übersetzungsbeurteilung heutzutage durch subjektive Vorlieben, nationale Traditionen und ästhetische Ideologeme verzerrt werden. Natürlich ist nicht garantiert, dass kompetenzorientierte Testverfahren diese Faktoren ausschließen würden, aber zumindest haben sie den Anspruch, fundiert und zuverlässig zu evaluieren.

Noch ist nicht abzusehen, ob sich solche Testverfahren für den gesamten Rahmenplan entwickeln lassen. Die PACTE-Forschungsgruppe, die sich auf die Entwicklung von fundierten und zuverlässigen Testverfahren für die Kompetenz von Übersetzern und Übersetzerinnen im Allgemeinen konzentriert, hat bislang keine überzeugenden Ergebnisse vorgelegt, aber deshalb sollte man nicht die Hände in den Schoß legen und die Idee kompetenzorientierter Testverfahren begraben.

Beim Blick auf die Deskriptoren, die jetzt im Rahmenplan auftauchen, zeigt sich, dass sie sich wahrscheinlich nicht alle auf fundierte und zuverlässige Weise testen lassen. Manche Deskriptoren bezeichnen nur bestimmte Situationen (z.B.: „spezialisiert sich auf ein bestimmtes Genre“), die sich durch simple Beobachtung bestätigen oder verneinen lassen. Die Prüfbarkeit anderer ist äußerst fragwürdig (z.B.: „optimale kreative Fähigkeiten“ oder „hilft bei der Begründung literarischer Übersetzungstraditionen“).

Sobald es um Themen wie Evaluation und Beurteilung geht, meldet sich immer eine gewisse Abneigung oder sogar Widerstand. Evaluation wird vorschnell mit Auflagen oder Standardisierung assoziiert. Das ist keinesfalls beabsichtigt. Andererseits darf die Offenheit und Flexibilität des Rahmenplans auch nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Damit der Rahmenplan ein flexibles Instrument der Orientierung und des Vergleichs wird, sind fundierte und zuverlässige Testverfahren eine große Hilfe und keine Gefahr.

 

 

Zur Brauchbarkeit des Rahmenplans

 

Der Rahmenplan ist ein pragmatisches und kein dogmatisches Werkzeug. Weder will er vorschreiben, auf welche Weise eine Literaturübersetzerin ihr Berufsziel erreichen sollte, noch schreibt er Inhalte oder didaktische Methoden vor. Er bietet sich als nützliches Werkzeug für verschiedene Zwecke an.

 

–          Aus der Sicht der Lernenden

 

Mit dem Rahmenplan können Lernende auf einfache Weise feststellen, welche Kompetenzen sie schon erworben haben und an welchen Kompetenzen (oder Deskriptoren) sie noch arbeiten sollten. Für sie ist der Rahmenplan ein Werkzeug der Selbsteinschätzung. Seine Flexibilität erlaubt ihnen außerdem, Schwerpunkte in ihrer künftigen Übersetzungstätigkeit festzulegen, ob sie beispielsweise eher „praktische“ Übersetzer oder eher „rechercheorientierte“ Übersetzer werden wollen. Mit Hilfe des Rahmenplans können sie die Kompetenzen definieren, die dem gewünschten Berufsprofil entsprechen.

 

–          Aus der Sicht der Bildungsinstitutionen

 

Für Institutionen, die Seminare oder Studiengänge im Bereich Literaturübersetzen anbieten, enthält der Rahmenplan Handreichungen bei der Ausarbeitung von Studien­ordnungen. Welche Seminare und welche Inhalte müsssen angeboten werden, um auf einem gegebenen Niveau kompetente Literaturübersetzer auszubilden? Auch bereits bestehenden Programmen bietet der Rahmenplan Beurteilungshilfen: Tragen wirklich alle Ausbildungsangebote zur Aus- bzw. Weiterbildung kompetenter Literaturübersetzer bei? Im nationalen und europäischen Maßstab bietet der Rahmenplan Mittel zum Vergleich verschiedener Aus- und Weiterbildungsprogramme. Für Lernende ist das eine Entscheidungs­hilfe bei der Frage, wo sie ihre Kenntnisse und Fertigkeiten erweitern wollen. Wenn es dem Rahmenplan gelingt, fundierte und zuverlässige Testmethoden zu entwickeln, kann er schließlich als Grundlage zur Evaluation europäischer Bildungs­institutionen für das Literaturübersetzen dienen.

Jede Übersetzungsdozentin kann den Rahmenplan in ihren Veranstaltungen als didaktisches Werkzeug einsetzen: Was bietet ihr Seminar auf welchem Niveau? Was fehlt? usw. Schlussendlich wäre der Rahmenplan Dozenten und Mentoren eine Hilfe, bessere Seminare und Workshops zu konzipieren.

 

–          Aus der Sicht von Seminar- und Workshopanbietern

 

Anbieter von Seminaren und Workshops können mit Hilfe des Rahmenplans das ihnen vorschwebende Kompetenzniveau festlegen: Wenn sie beispielsweise einen Workshop für MA-Studierende organisieren, die professionelle Übersetzer werden wollen, lässt sich mit Hilfe des Rahmenplans festlegen, welche spezifischen Fertigkeiten auf diesem Niveau erforderlich sind.

 

–          Aus der Sicht der Vernetzung

 

Der Rahmenplan kann die Vernetzung zwischen Institutionen und Seminar­anbietern unterstützen. Er kann eine Hilfe dabei sein, Ergänzungen und Überschneidungen von Ausbildungsprogrammen zu benennen. Eine einzelne Institution kann wahrscheinlich keine Aus- oder Weiterbildung in allen Kompetenzen anbieten. Mit Hilfe des Rahmenplans kann eine Lernende herausfinden, wo sie die Kompetenzen erwerben kann, in denen sie in ihrer Heimatinstitution nicht unterwiesen wird.

 

–          Der Rahmenplan als didaktisches Werkzeug

 

Insbesondere die Online-Version des Rahmenplans kann bibliographische Hilfsmittel, Seminar­tips, Mustertests, optimale Vorgehensweisen für einzelne Deskriptoren u.a.m. anbieten. Sie kann neue didaktische Ideen und Ausbildungshilfen bereitstellen.

 

–          Der Rahmenplan als Kommunikationshilfe zwischen Verlag und Übersetzerin

 

Übersetzer können den Rahmenplan in Diskussionen oder Verhandlungen mit Verlagen nutzen. Er kann helfen klarzustellen, welche Kompetenzen beim Übersetzen eines bestimmten Texts erforderlich sind. Der Rahmenplan kann die professionelle Sichtbarkeit von Literaturübersetzern erhöhen und ihre wirtschaftliche Lage verbessern.

 

 

Was zu tun bleibt

 

Die Arbeit am Rahmenplan ist wahrscheinlich eine unabschließbare Aufgabe. Wenn er erst einmal auf den diversen oben genannten Feldern zur Anwendung kommt, werden neue Elemente auftauchen und andere, jetzt vorhandene Elemente werden sich erübrigen. Eine ständige Anpassung und Verfeinerung des Rahmenplans ist also wünschenswert, ja unentbehrlich.

Zwei Punkte scheinen jedoch dringender, und wenn der Rahmenplan Erfolg haben soll, wäre es ratsam, sie baldmöglichst zu entwickeln. Der erste Punkt ist die Entwicklung der Online-Version des Rahmenplans. Sie bietet gegenüber einer bloßen Druckversion viele Möglichkeiten und Chancen. Durch das Anklicken einzelner Deskriptoren lassen sich Zusatzinformationen über das Gemeinte abrufen. Darüber hinaus können für alle Sprachenkombinationen Didaktiktips, bibliographische Angaben zu relevanten Werken, Wörterbüchern, Aufsätzen usw. aufgenommen werden. All das lässt sich natürlich erst im Lauf der nächsten Jahre verwirklichen.

Da das Problem der Evaluation im Zeitrahmen dieses Projekts nicht zu lösen ist, wäre es zweitens wünschenswert, in einem Anschlussprojekt eine wirklich kompetenzorientierte Evaluationsmethode zu entwickeln.